DREIUNDDREISSIG

Noch ehe ich den Automatik-Hebel auf Parken stellen kann, ist sie schon an der Haustür und wartet auf mich.

Entweder kann sie wirklich hellsehen oder sie steht schon da, seit wir aufgelegt haben.

Doch als ich ihre besorgte Miene sehe, verspüre ich Gewissensbisse, weil ich das denke.

»Ever, schön, dass du da bist«, sagt sie lächelnd, während sie mich die Stufen zur Haustür hinaufführt und in ein hübsch eingerichtetes Wohnzimmer lotst.

Ich schaue mich um, betrachte die gerahmten Fotos, die schönen Fotobücher auf dem Couchtisch, die Polstergarnitur, und bin erstaunt, wie normal das alles ist.

»Du hast wohl lila Wände und Kristallkugeln erwartet?« Sie lacht und bedeutet mir, ihr in eine helle, sonnige Küche zu folgen. Beigefarbene Steinfliesen auf dem Boden, Geräte aus Edelstahl und ein sonnenhelles Oberlicht in der Decke. »Ich mache uns Tee«, verkündet sie, stellt den Wasserkocher an und beordert mich auf einen Platz am Tisch.

Ich sehe zu, wie sie geschäftig herumhantiert, Kekse auf einen Teller legt und den Tee aufgießt, und als sie mir gegenüber Platz nimmt, sehe ich sie an und sage: »Ah, tut mir leid, dass ich so ... unhöflich war und ... all das.« Hilflos zucke ich die Achseln und krümme mich innerlich, weil sich das so unbeholfen und unzulänglich anhört.

Doch Ava lächelt nur und legt ihre Hand auf meine, und sobald sie mich berührt, fühle ich mich unwillkürlich besser. »Ich bin einfach nur froh, dass du gekommen bist, ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht.«

Ich schaue auf den Tisch hinunter, den Blick starr auf das limonengrüne Platzdeckchen geheftet, und weiß nicht, wo ich anfangen soll.

Aber da Ava die Führung übernommen hat, regelt sie das für mich. »Hast du Riley gesehen?«, erkundigt sie sich und sieht mir fest in die Augen.

Und ich kann es nicht fassen, dass sie ausgerechnet damit anfangen will. »Ja«, antworte ich schließlich. »Und nur zu Ihrer Information, besonders gut sieht sie nicht aus.« Dabei presse ich die Lippen zusammen und wende den Blick ab; ich bin überzeugt, dass sie irgendwie schuld daran ist.

Doch Ava lacht nur - sie lacht! »Glaub mir, es geht ihr gut.« Sie nickt und trinkt einen Schluck von ihrem Tee.

»Ihnen glauben?« Mit offenem Mund starre ich sie kopfschüttelnd an. Sehe, wie sie auf diese gelassene, ruhige Art an ihrem Tee nippt und an ihrem Keks knabbert, die mich wirklich rasend macht. »Warum sollte ich? Sie sind doch diejenige, die ihr eine Gehirnwäsche verpasst hat! Sie sind diejenige, die ihr eingeredet hat, dass sie wegbleiben soll!« Jetzt brülle ich und wünsche mir, ich wäre niemals hergekommen. Was für ein kolossaler Riesenfehler!

»Ever, ich weiß, dass du unglücklich bist, und ich weiß, wie sehr sie dir fehlt, aber hast du eigentlich eine Ahnung, was sie geopfert hat, um bei dir zu sein?«

Ich schaue aus dem Fenster. Mein Blick schweift über den Springbrunnen, die Pflanzen, die kleine Buddhastatue, und ich mache mich innerlich auf eine wirklich blöde Antwort gefasst.

»Die Ewigkeit.«

Ich verdrehe die Augen. »Also bitte, sie hat doch nichts anderes als Zeit.« »Ich rede von mehr.«

»Ja, klar, und was zum Beispiel?«, frage ich und denke im Stillen, dass ich eigentlich einfach den Keks weglegen und machen sollte, dass ich hier rauskomme. Ava hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Sie ist eine Schwindlerin, und sie lässt sich mit solcher Autorität über die absurdesten Dinge aus.

»Wenn Riley bei dir ist, bedeutet das, dass sie nicht bei ihnen sein kann.«

»Bei ihnen?«

»Bei deinen Eltern und bei Buttercup.« Sie fährt mit dem Finger über den Rand ihrer Teetasse, während sie mich unverwandt ansieht.

»Woher wissen Sie von -«

»Bitte, ich dachte, das hätten wir hinter uns?« Ihre Augen blicken immer noch fest in meine.

»Das ist doch lächerlich«, knurre ich und schaue weg, während ich mich frage, was Riley nur jemals an einem solchen Menschen gefunden haben kann.

»Wirklich?« Sie streicht sich das kastanienbraune Haar aus dem Gesicht und legt eine Stirn bloß, die vollkommen glatt und faltenlos ist, frei von jeglicher Sorge.

»Na schön, ich spiele mit. Wenn Sie so viel wissen, dann sagen Sie mir doch mal, wo ist denn Riley Ihrer Meinung nach, wenn sie nicht bei mir ist?« Mein Blick begegnet dem ihren, und ich denke, das dürfte echt gut werden.

»Sie wandert herum.« Ava hebt die Tasse und trinkt noch einen Schluck.

»Wandert herum? Oh, okay.« Ich lache. »Als ob Sie das wüssten.«

»Etwas anderes bleibt ihr jetzt nicht mehr übrig, da sie sich dafür entschieden hat, bei dir zu sein.«

Wieder schaue ich aus dem Fenster; mein Atem fühlt sich heiß und beengt an. Innerlich sage ich mir, dass das nie im Leben wahr sein kann.

»Riley hat die Brücke nicht überquert.«

»Sie irren sich. Ich habe sie gesehen.« Wütend funkele ich sie an. »Sie hat zum Abschied gewinkt und all so was, sie haben alle gewinkt. Ich sollte das ja wohl wissen. Ich war da.«

»Ever, ich habe keine Zweifel, was du gesehen hast, aber was ich sagen wollte, war, Riley hat es nicht bis zur anderen Seite geschafft. Sie hat auf halbem Weg angehalten und ist zurückgerannt, um dich zu suchen.«

»Tut mir leid, aber das stimmt nicht«, wehre ich ab. »Das ist absolut nicht wahr.« Mein Herz hämmert in meiner Brust, als ich mich an jenen letzten Moment erinnere, an das Lächeln, das Winken und dann ... und dann gar nichts ... sie verschwanden, während ich mich abmühte und bettelte und flehte zu bleiben.

Sie wurden geholt, während ich übrig blieb. Und das ist ganz und gar meine Schuld. Es hätte mich treffen müssen. Alles Schlimme kann auf mich zurückgeführt werden.

»Riley hat in letzter Sekunde kehrtgemacht«, fährt Ava fort. »Als niemand hingeschaut hat und deine Eltern und Buttercup schon auf der anderen Seite waren. Sie hat es mir erzählt, Ever, wir haben das viele Male durchgesprochen. Deine Eltern sind weitergezogen, du bist wieder ins Leben zurückgekehrt, und Riley saß fest, war zurückgelassen worden. Und jetzt verbringt sie ihre Zeit damit, zwischen dir, mir, euren früheren Nachbarn und ein paar verschrobenen Promis hin und her zu wandern.« Sie lächelt.

»Sie wissen davon?« Mit weit aufgerissenen Augen starre ich sie an.

Sie nickt. »Das ist ganz natürlich, obwohl die meisten erdgebundenen Entitäten derlei schnell leid werden.« »Erdgebundene was?«

»Entitäten, Geister, Gespenster, das ist alles dasselbe. Allerdings sind sie ziemlich anders als die, die die Brücke überquert haben.«

»Das heißt also, Riley sitzt fest.«

Sie nickt. »Du musst sie dazu bringen, dass sie geht.«

Ich schüttele den Kopf und denke, das liegt ja wohl kaum bei mir. »Sie ist doch schon gegangen. Sie kommt kaum noch vorbei«, murmele ich und schaue sie finster an, als wäre das ihre Schuld. Doch das tue ich nur, weil es ja auch so ist.

»Du musst ihr deinen Segen geben. Du musst sie wissen lassen, dass es okay ist.«

»Hören Sie«, entgegne ich; ich habe diese Diskussion satt, habe es satt, dass Ava sich in meine Angelegenheiten einmischt, mir sagt, wie ich mein Leben führen soll. »Ich bin hergekommen, weil ich Hilfe brauche, nicht, um mir das alles hier anzuhören. Wenn Riley bleiben will, schön, das ist ihre Sache. Nur weil sie zwölf ist, heißt das noch lange nicht, dass ich ihr sagen kann, was sie tun soll. Sie ist ganz schön stur, wissen Sie?«

»Hm, ich frage mich ja, woher sie das wohl hat?«, meint Ava, nippt an ihrem Tee und mustert mich.

Obwohl sie lächelt und versucht, so zu tun, als wäre das ein Witz, sehe ich sie lediglich an und sage: »Wenn Sie mir nicht helfen wollen, dann sagen Sie's einfach.« Damit stehe ich von meinem Stuhl auf; meine Augen tränen, Panik erfüllt meinen ganzen Körper, mein Kopf pocht schmerzhaft, und doch bin ich absolut bereit, zu gehen, wenn ich muss. Mir fällt wieder ein, was mein Dad gesagt hat, was der Schlüssel zu jeder Verhandlung sei - dass man bereit sein müsse, auszusteigen, ganz gleich, was passiert.

Sie betrachtet mich einen Moment, dann bedeutet sie mir mit einer Geste, mich zu setzen. »Wie du willst.« Sie seufzt. »Also, das geht so.«

 

Als Ava mich schließlich hinausbegleitet, stelle ich überrascht fest, dass es schon dunkel ist. Ich habe da drinnen wohl mehr Zeit verbracht, als mir klar war, habe Schritt für Schritt eine Meditation durchlaufen, habe gelernt, wie ich mich erden und meinen eigenen Schutzschild aufbauen kann. Obwohl dieser Besuch nicht allzu gut angefangen hat, besonders all das Zeug über Riley, bin ich doch froh, dass ich gekommen bin. Dies ist seit sehr langer Zeit das erste Mal, dass ich mich vollkommen normal fühle, ohne Alkohol oder Damen als Krücke zu benutzen.

Ich danke ihr noch einmal und gehe zu meinem Wagen, und gerade als ich einsteigen will, sieht Ava mich an und sagt: »Ever?«

Ich drehe mich zu ihr um. Sie ist jetzt nur von dem sanften, gelben Licht ihrer Veranda umgeben, da ihre Aura nicht mehr sichtbar ist.

»Ich wünschte wirklich, du würdest dir von mir zeigen lassen, wie man den Schild wieder herunterfährt. Vielleicht bist du ja überrascht und stellst fest, dass dir das fehlt«, drängt sie.

Aber das haben wir bereits durchgekaut, mehr als einmal. Außerdem habe ich meinen Entschluss gefasst, und es gibt kein Zurück. Ich sage Hallo zu einem normalen Leben und Lebewohl zur Unsterblichkeit, zu Damen, zum Sommerland, zu hellseherischen Phänomenen und allem anderen,

 

was dazu gehört. Seit dem Unfall war alles, was ich wollte, wieder normal zu sein. Und jetzt, da es so weit ist, habe ich vor, diese Normalität mit offenen Armen willkommen zu heißen.

Ich schüttele den Kopf und stecke den Schlüssel ins Zündschloss. Dann schaue ich von Neuem auf, als sie sagt: »Ever, bitte denk darüber nach, was ich gesagt habe. Du hast das völlig falsch verstanden. Du hast dem falschen Menschen Lebewohl gesagt.«

»Wovon reden Sie eigentlich?«, frage ich; ich will nur noch nach Hause, damit ich wieder anfangen kann, mein Leben zu genießen.

»Ich glaube, du weißt, was ich meine.«